Japanisches Glück

In japanischen Gärten werden die Jahreszeiten inszeniert wie kaum irgendwo sonst: Im Frühling mit Kirschblüten, im Sommer mit dem grünen Gewölbe schattenspendender Bäume, im Herbst mit rotglühendem Ahorn. Jetzt aber stehen die Bäume kahl hinter dem Mauerwerk. Inmitten des großen Landschaftsgartens liegt eine kleiner Steingarten, auf drei Seiten von ziegelgedeckten Mauern umschlossen, am Rande des Ryoanji-Tempels, eines Zen-Tempels in Kyoto. Auf Moospolstern ruhen Steine und Felsbrocken gruppenweise wie Inseln in einem Meer aus weißem Kies, Tag für Tag rillenförmig geharkt. Vierzehn Steine sind zu sehen. Nur vom anderen Ende des Gartens aus wird ein 15. Stein sichtbar, der zuvor verborgen lag – und beim Blick zurück sind es doch wieder nur vierzehn Steine! Tatsächlich, wie auch immer die Perspektive verändert wird: Ein Stein gerät aus dem Gesichtsfeld, als gäbe es ihn nicht. Dass etwas unsichtbar und dennoch da sein kann: Das ist die Lektion dieses Gartens.

Zen ist die Disziplin der Aufmerksamkeit. Weit über den Garten hinaus geht es um eine Lehre fürs Leben: Da ist immer etwas, das wir nicht wahrnehmen. Es genügt, räumlich und gedanklich den Standpunkt zum wechseln: Die veränderte Perspektive bringt in den Blick, was zuvor nicht zu sehen war – und etwas anderes gerät dafür wieder aus dem Blick. Wichtig wäre, nie sicher zu sein, dass dort, wo nichts zu sehen ist, auch wirklich nichts ist. Von dieser Überzeugung scheint die japanische Kultur zutiefst durchdrungen zu sein: Dass es eine endgültig erkennbare, endliche Wirklichkeit nicht gibt, dass hinter jedem Raum vielmehr noch ein weiterer Raum sich auftut, dass dies ein Moment der Unendlichkeit ist, die das Menschsein umfängt.

So manche Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der Kommunikation und des Verhaltens im japanischen Alltag lässt sich auf diese Weise erklären. Sich nie zu sehr festzulegen, sich selbst nicht gänzlich preiszugeben: Jeder birgt in sich einen 15. Stein und vermutet ihn auch im Innern des Anderen. Etwas bleibt offen, immer noch etwas Anderes erscheint möglich, nie droht die Sackgasse eines endgültigen Wissens. Dieser Sinn fürs Unklare, Unbestimmte, Unbekannte, Undurchschaubare ist Teil des japanischen Glücks. Vielleicht wäre das auch für uns manchmal eine hilfreiche Frage: Wo in der momentanen Situation, wo im gesamten eigenen Leben ist der 15. Stein verborgen, den wir so leicht übersehen? Und wenn wir ihn in de Blick bekommen: Können wir damit leben, dass uns dafür wieder etwas Anderes entgeht?

aus Wilhelm Schmid, Die Fülle des Lebens, Suhrkamp